20.Juli 2015
Der Weg nach Rom ist seit dem frühen Mittelalter ein Pilgerweg. Teile der Infrastruktur, wie etwa das Hospiz am Gr. Sankt Bernhard, stammen aus dieser Zeit. Heute haben die Wanderer auf diesem Weg vielfach keine religiösen Motive im kirchlichen Sinn. Und sie werden in den Konventen und Pfarreien, die Unterkunft gewähren, auch nicht danach gefragt. Die Kirche ist nicht kleinlich. Denn eine spirituelle Dimension hat der Entschluss, diesen Weg zu gehen (und keinen anderen) in aller Regel. Häufig geht eine Lebenskrise voran und die Erkenntnis, dass man sein Leben nicht auf die bisherige Weise weiterführen kann. Am Beginn der Wanderschaft stehen häufig Grenzerfahrungen von Leid, Krankheit oder Verlust. Wer eine existenzielle Erschütterung erfahren hat, sucht nach Sinn und Orientierung. Die Aufnahme in kirchlichen Unterkünften ist insofern immer auch Seelsorge.
Auf meiner Wanderung nach Rom sind mir nur wenige Wanderer mit explizit religiösen Motiven begegnet. Die meisten verstehen sich durchaus als Pilger, aber im Ursprungssinn des Wortes. Der Peregrinus im Lateinischen war der Fremde, der von jenseits des römischen ager kam. Und ein Fremder bleibt man als Wanderer. In diesem Sinn ist die Wanderung immer auch Pilgerschaft. Um die Figur des säkularen Pilgers oder spirituellen Wanderers zu erfassen, könnte man auf das Lateinische „Peregrinus“ zurück greifen.
Gespräche über die Gründe für das Pilgern sind unter Pilgern eher selten. Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass man zu Fuß nach Rom geht. Der Sinn des Pilgerns muss dem Mit-Pilger nicht erläutert werden, niemand braucht sich zu erklären. Unter Pilgern erklärt sich die Pilgerschaft selbst. Der gemeinsame Weg schafft den gemeinsamen Verstehenshorizont.
Wer wandert oder pilgert, tritt aus seiner Alltagsexistenz heraus. Die Rückkehr kann heute zwar, im Gegensatz zum Mittelalter, als ziemlich sicher gelten, aber der Rückkehrer ist nicht mehr der gleiche wie derjenige, der aufgebrochen ist. Damals wie heute will der Pilger ein anderer werden, will seine Existenz auf eine neue Grundlage stellen