Zukunftsausrichtung ist leer, wenn sie nicht mit Intentionen und Plänen grundiert ist. Menschen sind intentionale Wesen – sage mir was du planst, und ich sage dir wer du bist.
Die Zukunft ist nicht einfach das, was (ohnehin) kommt, sondern ein offener Raum von Möglichkeiten, aus denen bestimmte gewählt und verwirklicht werden (im Rahmen der subjektiven und objektiven Bedingungen). Für die Auswahl braucht der Mensch Orientierung, für die Verwirklichung braucht er Kompetenzen und Lebensenergie.
Ausgewählt werden die Möglichkeiten, die sinnvoll erscheinen und deren positive Lebens-Bedeutung die notwendige Kraft verleiht, sie zu verwirklichen. Dabei sucht der Mensch nicht irgendeinen, sondern seinen eigenen Weg, den Weg, der seinen Werten und Fähigkeiten angemessen ist: „Und natürlich verbindet er mit seinem Weg die Hoffnung, dass er ins gelobte Land führt; soll heißen: ins Glücken des Lebens.“(Kurz, S.88)
Der Begriff der Orientierung gehört zu den Begriffen, die aus der räumlich-zeitlichen Sphäre in die geistige gewandert sind. Die Pilgerschaft verbindet beide Dimensionen: der Pilger geht einen durch religiöse Tradition vorgegebenen Weg hin zu einem vorgegebenen Ziel. Auf dieser äußeren Bahn sucht er nach dem richtigen Weg für seine persönliche Lebensgestaltung und nach seinem persönlichen Lebensziel. So bekommen seine Schritte den symbolischen Charakter, der die Essenz einer Pilgerschaft ausmacht.
Die Schulung des Willens ist ein entscheidender Bestandteil der Entwicklung der Person und des Selbst. Der italienische Begründer der Psychosynthese, Roberto Assagioli (1888-1974), entwickelt eine Phänomenologie der Willenstat und beschreibt folgende Stadien: Zielfindung, Erwägung, Entscheidung, Bekräftigung, Planung, Durchführung.
Eine Pilgerreise ist ein hervorragendes Feld, den Willen durch all diese Stadien hindurch zu schulen.
Wer das Ziel erreichen will, muss den Weg dorthin kennen. Zwischenziele müssen festgelegt werden, die benötigten und die verfügbaren Zeiträume eingeschätzt, entsprechend ein Zeitplan aufgestellt werden. Es muss unterschieden werden, zwischen dem, was notwendigerweise geplant werden muss, und was der spontanen Entscheidung vor Ort überlassen werden kann. Die Ausrüstung muss zweck- und zieldienlich sein, nichts Überflüssiges sollte mitgeschleppt werden: Gehe leicht! ist die Maxime des Pilgers. Auch die eigenen Möglichkeiten und Kräfte sollte man realistisch einschätzen und sich nicht durch wirklichkeitsferne Ziele überfordern. Unrealistische Erwartungen an sich selbst führen nur zu Enttäuschungen, im schlimmsten Fall zum Abbruch der Reise.
„ Die wichtigste Regel ist eine klare und genaue Formulierung des Zieles, dass erreicht werden soll, das dann durch alle Stadien der Durchführung hindurch, die oft lang und kompliziert sind, fest im Sinn behalten werden muss.“ (R. Assagioli)
Die Schönheit und das positive Erleben einer Pilgerreise hängen in gleicher Weise vom Ineinandergreifen der „reisetechnischen“ Elemente wie Ausrüstung, Orientierung, richtiger Einschätzung des körperlichen Leistungsvermögens, etc. ab. Fehler oder mangelndes Engagement in diesen technischen Angelegenheiten der Pilgerschaft rächen sich und können zu einem vorzeitigen Ende führen.
Das Konzept der Peak-Experience (A.Maslow) transponiert gewissermaßen religiöse Erfahrungen in weltliche und beschreibt phänomenologisch, wie sich transzendentale „Gipfelerfahrungen“ anfühlen. Maslow bietet 25 Charakteristika an, die Peak-experience ausmachen. Im Kern kennzeichnet er diese Erfahrung folgendermaßen:
• Die Welt wird als ein in sich stimmiges Ganzes wahrgenommen, in dem alle Dinge an ihrem richtigen Platz sind.
• Die Dinge werden als gleich wertig wahrgenommen. Es wird nicht mehr verglichen oder geurteilt oder zwischen wichtig und unwichtig unterschieden.
• Natur wird als an und für sich seiend erlebt und nicht mehr unter dem Aspekt, zu welchen Zwecken sie dem Menschen dienlich ist und entsprechend von ihm genutzt werden kann.
• Die Wahrnehmung verschiebt sich von der gewöhnlichen Ichzentriertheit hin zur Objektzentrierung, weg vom Ego hin zu den Sachen.
• Gipfelerlebnisse werden als so großartig empfunden, dass sie das Leben als Ganzes rechtfertigen und ihm Sinn verleihen.
• Das Gefühl für Raum und Zeit geht verloren, die Wahrnehmung wird passiver und rezeptiver.
• Probleme und Konflikte erscheinen gelöst oder überwunden. Während und nach Peak-Experiences fühlt sich der Mensch gelöst, glücklich, beschenkt
Wer sich bewusst zum Ziel setzen würde, derartige Peak -Experiences zu suchen, dem erginge es wie jedem Glückssucher: der direkte Zugriff verjagt alle Chancen, das Glück zu fassen. Gipfelerfahrungen sind wie Glückserfahrungen ein Geschenk. Allenfalls kann man sich auf dessen Empfang vorbereiten.
Durch Pilgern lassen sich keine „Gipfelerlebnisse“ erzwingen. Aber der Pilger wird unweigerlich eine „Plateau Erfahrung“ (der Begriff stammt ebenfalls von A. Maslow) machen, wenn er sich auf seine Fußreise auch geistig einlässt. Diese „Hocherfahrung“ kann als gelassen-heitere Grundstimmung beschrieben werden, in der sich der Pilger vorbehaltlos für Begegnungen mit Menschen und Natur öffnet. In dieser Erfahrung wird gewissermaßen die Gipfelerfahrung auf Dauer gestellt. Das ekstatische Moment verliert sich dabei natürlich.
In diesem Plateau-Erleben wird die Wirklichkeit als wertedurchwirkt erfasst, als in sich richtig und sinnvoll. Dieser sinnlichen Werterfahrung spricht Maslow hohe therapeutische Qualität zu:
„As a matter of fact, so many people find this so great and high an experience that it justifies not only itself but even living itself. Peak-experiences can make life worthwhile by their occasional occurrence. They give meaning to life itself. They prove it to be worthwhile. To say this in a negative way, I would guess that peak-experiences help to prevent suicide.“
13. November 2015
Die industrielle Zivilisation und der auf dem materiellen Reichtum aufbauende Sozialstaat haben das Leben des Menschen in einem für frühere Generationen nicht vorstellbaren Ausmaß erleichtert und abgesichert. Es ist ein Prozess in Gang gekommen, den K.Lorenz als die „Verhausschweinung“ des Menschen charakterisiert hat: in restlos abgesicherten Verhältnissen geht das Gefühl für die prinzipielle Gefährdung des menschlichen Daseins verloren.
Der Pilger holt sich dieses Gefühl zurück. Er ist unterwegs, seine – wenn auch zeitlich begrenzte – Lebensform ist die des Nomaden. So sind denn auch die Qualitäten, die er für die Pilgerschaft braucht und die ihm zuwachsen, nomadischer Natur: er muss fähig sein, sich zu orientieren; er muss genügsam sein und ohne Ansprüche an Komfort; er muss in der Lage sein, auf andere zuzugehen und er muss Gefahren richtig einschätzen können.
Abenteuer erlebt der Pilger, wenn er sich dafür öffnet, auch in einem metaphorischen Sinn. Die Bereitschaft, Dinge, Natur und Menschen frisch und unvoreingenommen zu sehen, wächst im Lauf einer Pilgerschaft. Die Wahrnehmung wird schärfer, die Sinne werden geschult und scheinbar Vertrautes erscheint in neuen Perspektiven. „Wenn man Abenteuer in dieser Weise definiert, bedeutet es weniger, tatsächlich aufregende Dinge zu erleben, als vielmehr in jedem Augenblick offen zu sein für das Unerwartete.“ (A.Löhndorf, Anleitung zum Pilgern,S.98)
15. Januar 2016
Der Mensch ist frei, meinend oder handelnd, seine Stellung in der Welt einzunehmen und sich zu Menschen und Aufgaben, zu Ereignissen und zu seinem Selbst zu positionieren. Er tut dies auf der Grundlage von überindividuellen Werten. Diese Werte sind der Maßstab, der es möglich macht, sich in der Welt und zu ihr in einer stimmigen Weise zu verhalten. Die Gültigkeit von Werten ist nicht davon abhängig, ob der Mensch sie anerkennt und nach ihnen lebt. Wenn einem Menschen die Wertorientierung verloren gegangen ist, gilt:“ ….aber so wie die Sonne auch weiterexistiert, wenn wir sie momentan nicht sehen, existieren die Werte fort, auch wenn ein durch die Depression wertblind gewordener Mensch ihrer momentan nicht ansichtig ist.“ (Viktor Frankl, Ärztliche Seelsorge, S, 142)
Im Strom sich ständig verändernder Lebenssituationen muss sich der Mensch an den jeweils situativ passenden Werten orientieren. Als Kern bleibt die Forderung, sich selbst treu zu bleiben und auf sein Gewissen zu hören im Fall eines Wertekonfliktes: „Soll dann die Wahl nicht willkürlich getroffen werden, so ist er wieder aufs Gewissen zurückgeworfen und angewiesen – auf das Gewissen, das allein es ausmacht, dass er frei aber nicht willkürlich, sondern verantwortlich eine Entscheidung trifft.“(a.a.O., S.90)
Frankl beschreibt drei große Wertlandschaften: die schöpferischen Gestaltungswerte, die aufnehmenden Erlebniswerte und die hinnehmenden Einstellungswerte. In unterschiedlichen Lebenslagen stellen sich jeweils andere Aufgaben und entsprechend sind andere Werte relevant: „Von Stunde zu Stunde wechselt im Leben die Gelegenheit einer Zuwendung bald zu dieser, bald zu jener Wertegruppe“ (a.a.O, S.93)
8. September 2015
Lebensentscheidungen und Lebensgestaltung eines Menschen hängen davon ab, welchen Dingen er in seinem Leben Bedeutung beimisst. Bedeutung bekommen Dinge, Handlungen oder Beziehungen auf der Grundlage von Werten, denen sich der Mensch (faktisch oder bewusst) verpflichtet fühlt. Mit Bedeutungen hat es übrigens auch die Psychotherapie wesentlich zu tun.
Die Entscheidung, aufzubrechen ist eine Wertentscheidung. Der „Peregrinus“ tritt aus seinem Alltagsdasein – dazu gehören auch Auszeiten wie die gängigen Urlaubsformen – heraus und unterbricht sein gewohntes Leben. Er will sich besinnen, seinen Lebensentwurf prüfen:
Lebe ich so, wie ich leben möchte?
Bin ich der, der ich sein will?
Soll oder muss ich mich und meine Welt verändern?
Auch in der Alltags-Lebenswirklichkeit misst der Handelnde fallweise sein Handeln an Wertmaßstäben. Die Pilgerschaft stellt den Lebensentwurf selbst auf dem Prüfstand. Diese Prüfung findet nicht in der Stille von Exerzitien statt, der Pilger sucht Orientierung in der Welt und Antworten in den Begegnungen mit Landschaften, Städten und Menschen.
20.Juli 2015
Der Weg nach Rom ist seit dem frühen Mittelalter ein Pilgerweg. Teile der Infrastruktur, wie etwa das Hospiz am Gr. Sankt Bernhard, stammen aus dieser Zeit. Heute haben die Wanderer auf diesem Weg vielfach keine religiösen Motive im kirchlichen Sinn. Und sie werden in den Konventen und Pfarreien, die Unterkunft gewähren, auch nicht danach gefragt. Die Kirche ist nicht kleinlich. Denn eine spirituelle Dimension hat der Entschluss, diesen Weg zu gehen (und keinen anderen) in aller Regel. Häufig geht eine Lebenskrise voran und die Erkenntnis, dass man sein Leben nicht auf die bisherige Weise weiterführen kann. Am Beginn der Wanderschaft stehen häufig Grenzerfahrungen von Leid, Krankheit oder Verlust. Wer eine existenzielle Erschütterung erfahren hat, sucht nach Sinn und Orientierung. Die Aufnahme in kirchlichen Unterkünften ist insofern immer auch Seelsorge.
Auf meiner Wanderung nach Rom sind mir nur wenige Wanderer mit explizit religiösen Motiven begegnet. Die meisten verstehen sich durchaus als Pilger, aber im Ursprungssinn des Wortes. Der Peregrinus im Lateinischen war der Fremde, der von jenseits des römischen ager kam. Und ein Fremder bleibt man als Wanderer. In diesem Sinn ist die Wanderung immer auch Pilgerschaft. Um die Figur des säkularen Pilgers oder spirituellen Wanderers zu erfassen, könnte man auf das Lateinische „Peregrinus“ zurück greifen.
Gespräche über die Gründe für das Pilgern sind unter Pilgern eher selten. Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass man zu Fuß nach Rom geht. Der Sinn des Pilgerns muss dem Mit-Pilger nicht erläutert werden, niemand braucht sich zu erklären. Unter Pilgern erklärt sich die Pilgerschaft selbst. Der gemeinsame Weg schafft den gemeinsamen Verstehenshorizont.
Wer wandert oder pilgert, tritt aus seiner Alltagsexistenz heraus. Die Rückkehr kann heute zwar, im Gegensatz zum Mittelalter, als ziemlich sicher gelten, aber der Rückkehrer ist nicht mehr der gleiche wie derjenige, der aufgebrochen ist. Damals wie heute will der Pilger ein anderer werden, will seine Existenz auf eine neue Grundlage stellen